‚memory spielen‘ – die rückschau auf die vergangenheit als krisenanker

lebensrückschau als krisenanker über den wert der retrospektion als selbstpraktik

„DIE KRISE ALS CHANCE“ – puh, können sie das auch gerade nicht mehr hören? endlich käme man mal zum wohnung oder keller ausmisten, kuchen backen, yoga machen, oder man würde halt ganz allgemein „auf sich selbst zurückgeworfen“, was ja auch sein gutes hätte, so manche psycholog*innen in interviews.

na klar, ich werde jetzt hier ein bisschen in die gleiche kerbe schlagen. ich werde aber weder aufräumetipps geben noch die besten rezepte für käsekuchen verraten oder meine liebsten yogastellungen preisen. ich frage mich aber selbst seit einer weile, was das wohl heißen mag, „auf sich selbst zurückgeworfen werden“ und was das mit uns gerade in diesen komplizierten zeiten macht. ich will nachdenken über diese art des nachdenkens und nachfühlens, das uns gerade so empfohlen wird.

gleich vorweg: nicht jeder mensch hat überwiegend schöne erinnerungen an seine vergangenheit. für einige ist retro- und introspektion ein schmerzhafter prozess, gerade dann, wenn sie ihn ganz alleine durchleben müssen. für sie liegt nichts lyrisches in diesen wunden, die sie haben. vielleicht kann aber der gedanke, und wenn er nur flüchtig ist, an das ‚einst‘ und ‚früher‘ einen anker bieten, wenn der blick in die zukunft momentan nur verunsichert und achtsamkeit, die ganz bewusste und liebevolle konzentration aufs hier und jetzt, in all der überwältigenden unsicherheit unmöglich erscheint. damit ist nicht gemeint, dass der blick auf die ganze lebensgeschichte notwendig ist und damit am besten auch gleich noch deren aufarbeitung einhergehen soll. das wäre ein ganz schön großes to-do und würde wohl die meisten von uns überfordern.

neulich sah ich im fernsehen eine dokumentation über die berliner pfaueninsel, und ich glaube, es war der ehemalige langjährige parkleiter, der von ‚erinnerungsinseln‘ sprach. ein wunderschönes wort. er meinte, dass wir eben selten kohärente, chronologisch geordnete erinnerungen an unser leben haben, sondern dass es bestimmte hervorstechende erinnerungsbilder gibt, die zum beispiel für eine jahreszeit stehen, also wie wir als kinder an heiligabend den raum mit dem geschmückten weihnachtsbaum betreten oder einen heuhaufen aufschichten, um uns dann hineinfallen zu lassen oder wie wir in den sommerferien mit unseren liebsten freund*innen am see lagen und herumgealbert haben. wie alt wir da genau sind? wer weiß das noch so genau?

ich meine also, wenn ich retrospektion als eine selbstpraktik vorschlage, den besuch solcher erinnerungsinseln, die im strom der zeit unser anker sind, und das sind ja meist die sehr schönen erinnerungen, oder die erinnerungen an peinlichkeiten oder auch an schlimme ereignisse oder schmerzhafte erfahrungen.

denn derzeit merke ich, dass jetzt, wo seit einigen wochen alles anders ist als zuvor, und das nicht nur in unserem kleinen heim, sondern für sehr viele menschen, mein boot immer öfter an diesen erinnerungsinseln anlegt, auch solche, die ich lange schon nicht mehr angefahren habe. es ist keine rein melancholische rückschau, die mit einem schweren seufzer einhergeht: „ach, früher, da konnte man noch auf die pfälzer weinfeste gehen“ oder „mensch, jetzt raus zum shoppen wäre toll!“. (natürlich kann das momentan auch ein teil lust- und frustvoller nostalgie sein.)

es ist bei mir seit wochen eher ein wildes hin- und herschippern im meer meiner biografie. geliebte menschen von früher tauchen auf, auch in meinen träumen nachts, verwaschene bilder, wie ich in den letzten jahren mit meinen eltern durch kleine gässchen von pfälzer orten schlendere an warmen frühlings- oder sommertagen, oder wie ich mit 15 meine haare für eine party zu einer wilden mähne toupiere und wer damals in wen aus meiner clique verliebt war oder wie es sich im letzten job angefühlt hat, wenn meine chefin etwas kritisiert hat oder wie ich die abgabe meiner doktorarbeit in einer bochumer kneipe feiere, auf dem riesigen sofa in der winzigen einzimmerwohnung meiner besten freundin sitze, in der sie schon lange nicht mehr wohnt, und ihr beim kochen in ihrer winzigen küche zusehe, oder wie ich als kind unterm haselnussstrauch im garten saß und haselnüsse mit steinen knackte und genüsslich verzehrte…

es geht, wie gesagt, wild durcheinander. das passierte auch schon vor der corona-krise immer mal wieder, aber jetzt ist plötzlich ein neuer raum da, diesen erinnerungen mehr wertschätzung entgegenzubringen, den guten wie den schlechten. sie dürfen bleiben. oder, vielmehr: ich genehmige mir die zeit, die ich brauche, auf den inseln zu verweilen, auch wenn es mich manchmal traurig macht. aber das gehört eben auch zum ‚lyrisch leben‘ dazu: selbstpraktiken, die nicht nur ‚arbeit an sich selbst‘ sind, sondern auch einfach mal abtauchen ins gefühl, ohne richtung, ohne sinn und zweck, es muss nichts produktives dabei rumkommen.

ich versuche deshalb, nicht alle diese erinnerungen und träume zu ‚durchdenken‘, sie zu analysieren, sofort ihre guten oder womöglich auch schlechten absichten greifbar zu machen. inseln, selbst wenn es nur geliebte trugbilder, mitunter sogar ganz schamlos von uns entworfene schimären sind („was für eine große liebe das doch damals zwischen mir und … gewesen ist!“), bieten uns vor allem verschnaufpausen, sie müssen nicht sofort erkundet werden – und sie müssen aber auch nicht dem narrativ der ‚krise als chance zur entschleunigung‘ unterworfen werden.

sie sind, was sie sind: erinnerungen, zu uns gehörend, in ihrer flüchtig-, vergänglich- und veränderbarkeit niemandem gehörend, köstlicher oder auch quälender selbstzweck. die kunst ist, sich nicht von ihnen heimsuchen zu lassen, sondern vielmehr sie heimzusuchen, sich in ihnen für einen kurze weile zu behausen. und damit sind sie ein möglicher weg, uns mit uns selbst zu befreunden, wenn wir mit der aussicht leben müssen, dass es nie wieder gewesen sein wird, wie es einmal in unserer erinnerung war.

als jugendliche habe ich das eingangszitat in john irvings großartigem roman ‚hotel new hampshire‘ von f. scott fitzgerald sehr geliebt: „So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.“

25.04.2020

zeitungen von gestern – teil 2: über das glück des „noch nicht“

„Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern“ – und: zeitungen von gestern sind „augenblicklich totes Papier, das stärkste Vanitassymbol der Moderne. Eine alte Zeitung ist immer eine Welt, die es schon nicht mehr gibt“, schreibt der journalist Andreas Rosenfelder in einem artikel in der WELT im jahre 2012.[1]

wäre ich videokünstlerin – was ich zu meinem großen bedauern nicht bin –, ich würde ein fünfzehnminütiges video erstellen, darin zu sehen: nichts als toter fisch, der unablässig in zeitungspapier eingeschlagen wird. immer und immer wieder. nicht als statement zum abgesang auf das medium „zeitung“, dazu ist wohl bereits genug geschrieben worden. es ist vielmehr meine faszination für dieses symbolhafte, das Rosenfelder beschreibt, für das tägliche, ritualisierte beschreiben einer welt, dies es so möglicherweise gibt, gegeben hat oder auch geben könnte, wenn die worte sie wirklich zu fassen vermögen würden. im ersten teil „zeitungen von gestern“ habe ich bereits beschrieben, dass alte zeitungen durchaus vor dem weg in den müll gerettet werden dürfen, nicht nur, um geschirr für den umzug darin zu verpacken. ich habe bis vor kurzem nicht nur alte zeitungsartikel von 2013 aufgehoben, um diese eines tages zu lesen. auch in den zeitungen von den jahren danach warteten worte darauf, durchs lesen an gewicht zu verlieren – manchmal stelle ich mir vor, bücher oder zeitungen würden durchs lesen leichter, man könne sie geradezu „weglesen“, um vom gewicht der bilder, die durch die worte entstehen können, nicht niedergedrückt zu werden, auch wenn es manchmal eine bittersüße last ist.

als ich die alten zeitungen zur hand nahm, so fand ich darin tatsächlich eine welt vor, die es so schon lange nicht mehr gibt: eine welt, in der trump nicht präsident ist – ja, mehr noch: wo die meisten analysen vor der wahl auch davon ausgingen, dass dieser mann niemals präsident werden könne. eine welt, in der gerade die ersten menschen auf den taksim-platz strömen. die afd hat in deutschland noch nicht die grünen überflügelt. wenn ich in die artikel eintauche, so ist es eine welt des noch-nicht. nicht des nicht-mehr. und in diesem noch-nicht liegt manchmal etwas tröstliches verborgen, natürlich auch die melancholie des vergangenen, vielleicht doch auch die illusion des „früher war es nicht ganz so schlimm“. es ist vor allem die naivität des gestrigen ichs: es wird schon alles nicht so schlimm kommen. wir haben doch gelernt aus den schrecken der vergangenheit, der unerbittlichkeit des gestern, den unglücklichen liebschaften vergangner tage. vielleicht eine illusion, der sich vor allem linke intellektuelle lange zeit hingegeben haben, wie es beispielsweise die philosophin Judith Butler in einem statement zu trumps wahl anklingen ließ [2]. was es auch ist: manchmal nehme ich gerne die zeitung von gestern zur hand. blicke aus dem fenster und verweile kurz im glück des noch-nicht, im risiko des noch-kommenden, im brüchigen futur II vergangner utopien, die noch nicht dystopie geworden sind. und dann wieder schrecke ich auf, da ich es nun besser weiß, einen moment lang.

[1] Rosenfelder, A. (2012): Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Die Welt. 26.11.2012 [https://www.welt.de/kultur/medien/article111500817/Nichts-ist-so-alt-wie-die-Zeitung-von-gestern.html]

[2] Butler, J. (2016): Trump-Wahl: Eine scheußliche Welle. Kommentar. 17.11.2016 [https://derstandard.at/2000047655391/Trump-Wahl-Eine-scheussliche-Welle]

september 2018


zeitungen von gestern – teil 1: weshalb es sich manchmal lohnt, unnützes aufzuheben

august 2018: zwei wochen urlaub an der nordsee. nichts besonderes, könnte man sagen. aber wir haben unser schönes, gemütliches ferienhäuschen mit reetdach einem besonderen umstand zu verdanken, sozusagen meinem „familienerbe“. wie meine mutter hebe ich nämlich alte zeitungsartikel auf, um sie „später zu lesen“. überall in der wohnung finden sich also stapel alter zeitungen, zeitschriften oder magazine mit ungelesenen artikeln. neulich las ich in einem buch den rat, man solle sich von solchen dingen einfach trennen. wie der kaputte stuhl, den man immer schon mal reparieren wollte, die wichtigen akten, die man doch nie fein säuberlich in die ordner einsortiert, die bücher, die man geschenkt bekam und deren inhalte einen einfach nicht ansprechen. einfach weg damit, meinte die autorin. es seien: energiefresser, tägliche mahnungen oder trügerische erinnungen an ein besseres ich, das diese projekte stets „eigentlich“ beendet haben würde, um nicht beständig den ballast unfertiger projekte mit sich zu schleppen.

ich habe besonders viele zeitungen aus dem jahr 2013 aufgehoben. das war privat ein ziemlich schwieriges jahr für mich, zudem gleichzeitig nach meiner doktorarbeit der einstieg ins „echte berufsleben“ außerhalb der uni. alte ausgaben der zeit, der faz oder der süddeutschen lagen bis vor kurzem verstreut in meinem heim. darin wichtige artikel zum aufgabenfeld, in dem ich mich damals beruflich (neu) bewegte. hätten also gelesen werden müssen. wurden nicht gelesen. halt, einige dann doch, im herbst des letzten jahres, denn es war klar, dass ein umzug im nächsten jahr anstehen würde. und was ich nicht wollte, war: die ständig greifbaren erinnerungen an ein besseres ich – wie es sein könnte – mit umzuziehen (naja, einige ungelesene artikel haben es aber unauffällig in die umzugskartons geschafft, es muss in einer nacht-und-nebel-aktion gewesen sein!). und als ich gerade einige der gelesenen artikel entsorgen wollte – ja, sowas darf man dann ja, mit einem gemischten gefühl von erleichterung und wehmut -, da fiel mein blick auf eine alte anzeige unter der rubrik „ferienhäuser“. ich googelte den namen des ferienhauses in der nähe von husum und fand zu meiner überraschung, das dies nicht bei airbnb oder einer anderen bekannten ferienwohnung-website auftauchte. es gab nur eine knapp gehaltene eigene kleine homepage mit wenigen bildern. die buchungsanfrage funktionierte via e-mail. ganz oldschool. und wir warteten sogar einige wochen auf die antwort, bis wir sogar dachten, dass das ganze nichts würde und uns bereits auf anderen websiten umsahen. aber uns ließen die wenigen, leicht verwaschenen bilder des schönen dreiseithofes nicht los. und dann klappte es doch. gegen ende unseres urlaubs erfuhren wir sogar von der vermieterin, dass sie die letzten beiden jahre die ferienwohnung gar nicht mehr in einer zeitung inseriert hatte; wir wären also, hätte ich zeitungen gleich gelesen und weggeworfen, niemals auf diese anzeige gestoßen.

und wir waren mehr als glücklich mit unserer wahl. uns wärmte sogar ein kleiner ofen, da es zwischendurch kalt und windig hier war, wie man es sich in den heißen julitagen erhofft hatte.

also, wirklich ganz unsere „wahl“ war es ja nicht: natürlich eine entscheidung für etwas. aber zugleich auch die wahl für etwas unbekanntes. für ein zwei-wochen-heim, das nicht durch jedes foto auf einer website vorab als passend, perfekt oder pittoresk befunden werden konnte. eigentlich nichts aufregendes: so reiste man mit seinen eltern in den 1980er und 1990er jahren ja öfter mal. so what? sogar dating war früher mal so, vor parship und tinder und wie die websites alle heißen. und wird hier nicht ein zufall zu einer schicksalhaften fügung aufgebauscht? mag sein.

meine freundin aus kindertagen hat mich einmal als „mythomanin“ bezeichnet – nicht in dem sinne, dass sie mir „lügensucht“ vorgeworfen hätte, sie meinte es (so hoffe ich) eher liebevoll: dass ich manchmal an geschichten aus kindertagen festhalte, die im kern wahr seien, um die herum von mir aber auch immer etwas mythisches, sagenhaftes, verrücktes herumgebastelt wurde. das mache ich also hier auch mit den zeitungen von gestern: diese eine, in der sich die anzeige für unser märchenhaft schönes ferienhäuschen befand, ist mein kleiner papierner fliegender teppich. eine flaschenpost aus der vergangenheit, darin eine fünf jahre alte botschaft an mich, dass die zeiten wieder besser werden. und dass man nicht immer alles im internet findet, was man gerade braucht. dass man auch mal wieder ins ungewisse leben darf.

september 2018